U. Pilarczyk: Gemeinschaft in Bildern

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Titel
Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel


Autor(en)
Pilarczyk, Ulrike
Reihe
Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 35
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Ruth Jakobs

Bilder sind flüchtig. Sie ziehen vorbei, blättern um, wechseln sich ab. Der hermeneutische Prozess entschleunigt das Bild, kontextualisiert es, analysiert die Elemente und interpretiert deren Bedeutung. Dabei vermitteln Bilder nicht nur Inhalte, sie «handeln» auch. Sie deuten Ihre Zeit, prägen Wahrnehmungsmuster und sind dem historischen Auge ästhetischer Zugang zu seiner kulturellen, sozialen und politischen Wirklichkeit. Dabei schaffen Bilder ihre eigene Wirklichkeit und verändern die Sicht auf deren Bedeutungsebenen.

Die geschichtswissenschaftliche Untersuchung von Bildern hat seit den 2000er Jahren Kontur gewonnen. Die «Visual History» ist im Kanon der historischen Forschungsbereiche angekommen.

Die Braunschweiger Erziehungswissenschaftlerin Ulrike Pilarczyk hat eine Studie im Bereich der Visual History vorgelegt, die den Einfluss von Bildern jüdischer Jugendbewegungen und zionistischer Erziehungspraxis auf diese selbst reflektiert. Ziel des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragenen Projektes ist, «die in ästhetischen Massenprodukten eingeschriebene kulturhistorische Situation jugendlicher Weltwahrnehmung und -gestaltung» (10) fassbar zu machen. Dies geschieht mit der Methode der «seriell-ikonografischen Fotoanalyse», die Pilarczyk und Mietzner in einem eigenen Band fundiert haben.

Die Idee zu diesem Projekt hatte die Jerusalemer Historikerin Tamar Rappaport. Es sollten die in privater Hand verstreuten Fotoalben von ehemaligen Mitgliedern der Jugendbünde erfasst werden. Insgesamt kamen 18.000 Bilder zusammen – ein schier unglaublicher Fundus. Der besondere Wert liegt in der laienhaften Inszenierung der Bilder und Alben, die aufgrund ihrer seinerzeit bewussten Gestaltung – anders als die heutige Produktion von digitalem Müll – Rückschlüsse auf die Sehweisen und Wahrnehmungen der Jugendlichen sowie auf Übernahmen aus zeitgenössischen Bildmotiven der Massenproduktionen zulassen. Für die Analyse nimmt Pilarczyk zunächst eine thematisch-motivische Typisierung und intensive Interpretation von Einzelbildern vor, der sie dann serielle Analysen ganzer Bildfolgen anschliesst.

Dabei ordnet sie die Fotografien in drei zeitliche Cluster und zeitlich überlappend zwei räumliche Cluster: Die erste Phase der Untersuchung konzentriert sich auf die deutschen jüdischen Jugendbünde in den 1920er und beginnenden 30er Jahren. Die zweite Phase betrachtet den Wandel der Jugendbünde in Fluchtgemeinschaften bis in die beginnenden 1940er Jahre. Das dritte Cluster beinhaltet die Darstellungen der Lebenswirklichkeit in Israel/Palästina ab den 1930er Jahren, jedoch mit Rückgriffen auf die frühesten Anfänge der Siedlung in den 20ern. Der Untersuchungsraum wechselt von Deutschland nach Palästina respektive Israel. Diese Cluster bilden den Grundrahmen der Gliederung, die sie in drei chronologische Abschnitte mit jeweils einem Überblickskapitel zur historischen Situation der Jugendgemeinschaften und des erzieherischen Konzeptes, einer erziehungswissenschaftlichen Analyse und schliesslich einer Bildanalyse unterteilt.

Der erste Teil beschreibt den Weg zu jüdischer Gemeinschaft in Deutschland. Nach einer kurzen Zusammenfassung der jüdischen Geschichte vor und nach dem ersten Weltkrieg beschreibt Pilarczyk die frühe zionistische Bildkunst des Künstlers David Lilien, der die bekannten Porträts Theodor Herzls schuf. Es folgt eine Analyse der jüdischen Erneuerungsbewegung, die insbesondere die die Rolle Martin Bubers in den Fokus nimmt. Als dritten Schwerpunkt analysiert Pilarczyk Bilder der jüdischen Jugendbünde mit Schwerpunkt auf die fotografische Praxis und die Motive der Selbstzeugnisse. Der Beitrag von Ulrike Mietzner hebt die Stellung der Mädchen in der jüdischen Jugendbewegung heraus.

Der zweite Teil befasst sich mit den jüdischen Jugendbünden nach 1933, der Zeit der zunehmenden Bedrohung jüdischen Lebens, die – von den Nationalsozialisten intendiert – unter anderem mit Auswanderungsbestrebungen seitens der jüdischen Bevölkerung beantwortet wurden. Daher stehen vor allem der Ausbau des Hachschara-Werks (= Vorbereitung auf ein landwirtschaftlich geprägtes Leben in Palästina) und der Jugend-Alija (Auswanderungsorganisation für Jugendliche) im Zentrum, der Wandel der Erziehungsziele und das Entstehen eines neuen jüdischen Selbstbildes als Pioniere, den so genannten Chaluzim.

Den dritten Teil widmet Pilarczyk dem neuen Leben in Palästina, der Integration der deutschen Jugendlichen aus dem bürgerlichen Milieu in die agrarische Gesellschaft der frühen Siedlungen Giwat Brenner und Hasorea. Im Generationensprung zeigt sie den Wandel des Lebens in den aufgebauten Kibbuzim, die eine erneuerte Bildungs- und Erziehungsinfrastruktur boten.

Den Abschluss bildet ein Vergleich zwischen den Bildern des Kibbuz Giwat Brenner aus den 1940er Jahren und deren Bearbeitung in einer Chronik zum 50-jährigen Jubiläum aus 1978. Pilarczyk analysiert daran das Geschichtsbewusstsein der Kindergeneration.

Die Ergebnisdichte der Untersuchung lässt den Schluss zu, dass die seriell-konografische Fotoanalyse die Methode der Wahl ist, um sublime Wahrnehmungsmuster und Weltdeutungen historischer Subjekte sichtbar zu machen.

Pilarczyk zeigt, wie die moderne (bildungs-)bürgerlich-jüdische Selbst- und Weltsicht konstante Bilder ihrer Bildungs- und Erziehungsideale hervorbringt, die sich kaum von den Jugendbünden anderer Konfessionen oder politischer Organisationen unterscheiden. Man sieht die gleichen Haufen- und Reihenformationen, das Streben nach Abenteuer, Körperlichkeit und Naturerleben, Intimität und angedeuteter Erotik sowie nach Gleichklang zwischen den Individuen.

Im zweiten Teil wird deutlich, in welcher Tiefe die nationalsozialistische Bedrohung die jüdischen Jugendbünde beeinflusste. Die Lust auf Abenteuer schwindet, Intimität macht dem Fleiss Platz. Fröhlichkeit ist im Tun zu erkennen, nicht im Sein. Die Hachschara zeigt die Funktion einer Parallelwelt, deren Ziel indessen sicher ist: das Verlassen des Vertrauten. Dies ist die Phase der Vermittlung zwischen bekannter bürgerlicher und neuer agrarischer Welt, in deren Bildern Ängste und Unsicherheit, aber auch Selbstbehauptung sichtbar werden.

Die Ankunft in der neuen Welt wirft die Pioniere in ein neues Lebenskonzept, das sich durch Auflösung der Perspektiven im Bild ergibt. So stehen Köpfe in einer Wüstenlandschaft ohne Fluchtpunkt, ein amorpher Horizont breitet sich hinter den Motiven aus, erdrückt sie. Beherrschend ist die Darstellung von Individuen, die sich durchkämpfen. Pilarczyk zeigt Gesichter von Jugendlichen aus der oberen Mittelschicht – Kinder von Kaufleuten, Ärzten und Anwälten, wie sie den Abschied aus dem bürgerlichen Milieu der alten Welt bewältigen und sich in einer neuen Gesellschaftsordnung bewähren. Das Gegenteil zeigt die Propagandafotografie aus den 20er Jahren, die den Pionier heroisiert.

Die zweite Generation der Zuwanderer zeigt eine ganz andere Bildsprache. Nach der Staatsgründung Israels 1948 erhalten die Bilder ihre Ordnung zurück. Das sozialistische Kibbuz-Ideal spiegelt sich in der Zusammenführung von Personen und (selbst-)errichteter Infrastruktur. Die jüdische Jugenderziehung ist nicht mehr Sache privatrechtlicher Vereine sondern staatlicher Institutionen. Deren Darstellung in den 1950er Jahren vermittelt vor allem das Ziel, der nächsten Generation Schutz und Ordnung zu gewährleisten. Die vormalige Ödnis ohne Fluchtpunkt ist angefüllt von fruchtbarem Grün, pädagogische Räume erscheinen hell, weit und grosszügig. Die erste geschichtsschreibende Generation in den 1970er Jahren rekurriert auf die Bilder der frühen Chaluzim, verändert sie jedoch durch die Wahl der Ausschnitte und Bildgrösse beträchtlich. Hervorhebung des Individuums und nachträgliche Konstruktion von Perspektiven im Bild geben der Pioniergeschichte eine eschatologische Färbung.

Die bildinterpretierenden Teile des Buches sind besonders gelungen. Pilarczyk und ihre Mitautorinnen betrachten nicht nur Zeichen und Symbole im ästhetischen Produkt, sie suchen ebenso nach Transfers aus anderen Bildvorlagen und analysieren deren Rezeption durch nachfolgende Generationen. Das Kapitel über die identitätsbildende Funktion der frühen Pionierbilder hat richtungsweisenden Charakter.

Die äussere Darstellung der Untersuchung ist geradezu vorbildlich gelungen. Die vielen Abbildungen sind weder zur Illustration degradiert noch artet die Monographie in ein Bilderbuch aus. Text und Fotos ergänzen sich, stehen gleichberechtigt nebeneinander.

Allerdings treten die historiographischen und auch die erziehungswissenschaftlichen Teile hinter die Analyse der visuellen Zeugnisse zurück. Pilarczyks Darstellung lässt eine klare Zeitachse vermissen. Sprünge über teilweise zwei Generationen hin und zurück entstellen eine Reihe von Bezügen. So folgen den privaten Pionier-Fotografien aus den 1940er Jahren Propagandafotos aus den 20ern. An anderer Stelle weisen gemäss Pilarczyk manche Propaganda-Darstellungen der Chaluzim aus den 30er Jahren «Ähnlichkeiten der Formsprache mit der zionistischen, aber auch der nationalsozialistischen und Sowjet- Bildpropaganda» auf – was sowohl die Zionisten als auch die jüdischen Jugendbünde in das Lager totalitärer Ideologen einreiht. Exakt diese Art der Propaganda-Darstellung findet sich im Buch jedoch schon für die 20er Jahre. Tatsächlich entspringt die inkriminierte Formensprache nicht totalitären Regimen sondern taucht bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf, als es noch keine Nationalsozialisten und keine Sowjetunion gab. Die Bildsprache, die wir heute mit totalitären Systemen assoziieren, wurde ab den 1920er Jahren populär genutzt.

Des weiteren ist zu monieren, dass Begriffe wie Antisemitismus, Zionismus, Bürgerlichkeit, Gemeinschaft und Gesellschaft unscharf und ohne Dynamik bleiben. Ebenso sind erziehungswissenschaftliche Begriffe wie Bildung, Erziehung, Erlebnis und Jugendbewegung nicht in ihrem Wandel problematisiert. Welche Bedeutung die jüdische Religion für die jüdischen Jugendbünde jenseits von Ausgrenzung und Verfolgung hatte, bleibt im Dunkeln. Die recht knappe Einleitung hätte etwas genauer auf die Untersuchungsmethode und vor allem auf das Bildmaterial (Bestand, Herkunft, Zugänglichkeit) eingehen können. Auch hätte die Konsultation jüngerer Literatur zur jüdischen Geschichte das ein oder andere Hinzerren der Interpretation in die Antisemitismus-Schiene vermeiden lassen. Schliesslich wäre eine Schlussbetrachtung am Ende des Buches von grossem Wert gewesen, um Ergebnisse in ihrer Verdichtung nachvollziehen zu können.

Trotz dieser Schwächen ist Ulrike Pilarczyk ein Werk mit besonderer Erkenntnistiefe gelungen. Die Untersuchung zeigt auf beeindruckende Weise, dass die Methoden der Visual History der textbasierten Hermeneutik gleichwertig sind.

Zitierweise:
Ruth Jakobs: Rezension zu: Ulrike Pilarczyk, Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel (=Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. 35), unter Mitwirkung von Ulrike Mietzner, Juliane Jacobi und Ilka von Cossart, Göttingen, Wallstein, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 528-531

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